Pfeifer mit drei Ü

Über den Wipfeln der Nadelbäume saust es hin und her. Wie kleine Pfeilsalven schießen Gruppen von Fichtenkreuzschnäbeln von Baumspitze zu Baumspitze: Kaum sind sie unter lauten Rufen hervorgeschwirrt, werden sie schon vom dichten Grün eines nahen Zweiges aufgefangen. Die hellroten Männchen bilden den exakten Komplementärkontrast zu den moosgrünen Weibchen. Im Farbkreis würden sie sich genau gegenüberliegen – eine der unzähligen, stimmigen Mini-Kompositionen auf der großen Leinwand der Natur.

Eine Etage tiefer hüpfen frech keckernde Haubenmeisen durchs Geäst; Wintergoldhähnchen zirpen im Fortissimo, die Tannenmeise fiedelt dazu, und auch eine Weidenmeise steuert ihr hämisches „Ziieh-häh-häh-hääh“ bei. Sie klingt wie ein kleiner Kobold. Es herrscht Aufregung im Föhrenwald. Und vielleicht sind Jan und ich sogar noch etwas nervöser als die exaltierte Kleinvogelschar.

Und das, obwohl diese Situation für uns gewiss kein schlimmes Ende nehmen wird. Die Meisen können sich da allerdings nicht so sicher sein. Sie rufen, was immer fliegen kann, herbei, um zu warnen: „Vorsicht! Vorsicht!“ und, wenn man so will, „Achtung! Da sitzt er!!“. Was die Meisencombo so überdeutlich sieht, bleibt unseren Augen noch verborgen. Das liegt sicher auch daran, dass wir uns nicht mit halb so viel Eleganz durch den flüsternden, knackenden, raschelnden Wald bewegen wie sie. Aber ganz so schlimm ist es auch nicht. Denn heute schwebt über all diesen Geräuschen ein durchdringender Ton. Für uns beide bedeutet er das Ziel unserer Wünsche. Für die Singvögel heißt er: Achtung. Todfeind. Der Ton lautet: „Ü.“

Zugegeben, das klingt nicht besonders bedrohlich. Das ist kein Werwolfsgeheul, und auch nicht die dröhnenden Bassgeige, die den Weißen Hai (im Film) auf dem Weg zu seinem Dessert begleitet. Hineingedacht in die Welt eines fünf Gramm schweren Wintergoldhähnchens muss es sich aber ausnehmen wie das Gebrüll eines hungrigen Löwen. Denn der geheimnisvolle Ü-Rufer ist niemand anderes als: Ein Sperlingskauz!

 
 

Was für uns die possierlichste Eule Deutschlands ist, bedeutet den kleineren Waldvögeln den blanken Horror. Denn Sperlingskäuze sind Vogeljäger. Dieses nur etwa faustgroße Federbällchen ist wie gemacht dafür, zwischen den Zweigen Überraschungsangriffe zu unternehmen. Das wissen Meise und Konsorten sehr genau. Man hat sogar herausgefunden, dass sie für verschiedene Beutegreifer unterschiedliche Warnrufe entwickeln, deren Aufbau und Intensität sich der Gefährlichkeit des Feindes anpassen. Sogar Warnrufe anderer Arten werden erkannt!

Das ist gar nicht so erstaunlich. Denn auch wir beide nutzen ja die – für uns artfremden - Warnrufe der Meisen, um die kleine Eule aufzuspüren. Und das mit Erfolg! Etwas sirrt auf halber Höhe an Fichtenstämmen und unseren Köpfen vorbei, ein mopsiger kleiner Federtorpedo, flankiert von einer Schar zeternder Verfolger, und landet auf einem kahlen Zweig uns direkt gegenüber. Ein kurzes Schwanzwippen, und schon pfeift es wieder über die Lichtung: „Ü – ü – ü – ü - ...“ Wir stehen wie gebannt. Doch offensichtlich gehen wir dem Käuzchen ohnehin ziemlich am Bürzel vorbei: Es ist Frühling. Jetzt wird gesungen. Und dafür gibt es keinen schöneren Ton als eben: „Ü!“

 
 

Dass die Hormone den kleinen Kerl so im Griff haben, ist nicht nur für die Kleinvögel, sondern auch für uns ein Glücksfall. Während Jan ganz langsam nach der Kamera tastet, betrachte ich den Sänger gewissermaßen durchs Opernfernglas: Wirklich, er vibriert geradezu vor Engagement und wendet das Köpfchen, auf dass der Klang seines Liebesliedes jeden Winkel des Waldes erreiche. Einmal blickt er mir dabei direkt ins Gesicht, scheint mich jedoch überhaupt nicht zu registrieren. Ich aber habe einen intensiven Eindruck: Mit den weit aufgerissenen Augen und dem darüber aufgeplusterten Scheitel erinnert das Käuzchen mich an einen der zauseligen Studienräte aus dem Film die „Feuerzangenbowle“, der seine „Schöler“ bei irgendeiner Respektlosigkeit ertappt hat und sich nun luftschnappend entrüstet. Und war da nicht auch etwas mit einem...Pfeifer?

Genau! „Pfeiffer mit drei F, eins vor und zwei hinter dem ei“, ist eine der berühmten Antworten, die Heinz Rühmann, als Pennäler nach seinem Namen gefragt, gibt. Unser Pfeifer hat anscheinend einen anderen Lieblingsbuchstaben. Und auf den kommt er immer wieder zurück. Nimmermüd klingt es durch den Wald: „Ü – Ü – Ü...“ Ich bin einmal mehr verwundert, was die Natur dem Gehirn an Assoziationsketten eingeben kann. Wer weiß, an was ich den Sperlingskauz erinnert habe.

Nach einer Weile ziehen wir uns vorsichtig zurück und überlassen den Wald wieder unserem „Spörlingskauz“, unserem liebgewonnenen „Pfeifer mit drei Ü“...

 
 
 
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Wo die wilden (Mist)kerle wohnen