Wo die wilden (Mist)kerle wohnen

Ich stolpere hastig über Geröll und trockenes Heidekraut, der Schweiß steht mir auf der Stirn und die Füße können mich gar nicht so schnell tragen, wie sie sollen. Ich keuche, über mir kreischt es teuflisch - und um mich herum, da schweigen in eisiger Majestät die Berge des schwedischen Fjälls, in einer Urzeitlandschaft irgendwo hinter dem Polarkreis. Ich bin 19 Jahre alt. Und meine naive jugendliche Wanderlust hat mich ausgerechnet in das Revier zweier Falkenraubmöwen geführt. Das weiß ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht.

 
 

Ich weiß nur: Plötzlich sind wie aus dem Nichts zwei fuchsteufelswilde Dämonen durch die Luft auf mich zugeschossen. Ich konnte nicht einmal erkennen, wer mich da eigentlich in so rasender Wut angreift. Im reflexhaften Abwenden des Blicks war gerade noch erkennbar, dass sich geschmeidige Körper mit scharfgeschnittenen Flügel schwarz vor der Sonne abzeichneten, die unter wüsten Verwünschungen den finalen Sturzflug auf mich antraten. Und da gab es nur eines. Rennen!

Erst viel später habe ich gelernt, dass ich nicht etwa den schlafenden Geist der Tundra erzürnt, sondern zwei Falkenraubmöwen bei ihrem Brutgeschäft aufgestört hatte. Aber besteht da eigentlich ein Unterschied?

Vielleicht ist nach dieser Schilderung etwas überraschend, dass Raubmöwen in der Reihenfolge meiner (und auch Jans) Lieblingsvögel einen der Plätze ganz weit oben auf der Liste einnehmen. Die eben geschilderte Episode war sicherlich eine meiner intensivsten Begegnungen mit der Wildnis, nicht zuletzt, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch keinen Namen für das hatte, was mir geschah. Und damit wird die Grenze zwischen Stercorarius longicaudus, der Falkenraubmöwe, Brutvogel der Arktis und seltenem Durchzügler an norddeutschen Küsten, und etwas, das aus einer anderen, fremden Welt auf uns hereinbricht, das mit einem intelligenten, scharfen Blick und noch schärferen, lackschwarzen Klauen in einem Haufen wirbelnder Federn eher einem Elementargeist als einem wissenschaftlich beschreibbaren Wesen gleicht – damit wird diese Grenze zwischen distanzierter Betrachtung und unmittelbarem Erleben einer Naturgewalt brüchig. Die Namen und Daten, die wir vor die Natur stellen, erzählen nicht alles von ihrem Wesen.

Raubmöwen unterscheiden sich von den Möwen, die jeder von der Kurpromenade kennt, vor allem in ihrem Verhalten. Alle Arten leben zumindest temporär davon, anderen Vögeln die Beute abzujagen. Und jetzt muss ich mich korrigieren: „Stercorarius“, die lateinische Gattungsbezeichnung, bedeutet „Mistkerl“. Zeugt unsere menschliche Bezeichnung also doch vom Charakter dieser Vögel? Das ist eine sehr anthropozentrische Sicht. Denn die Raubmöwe will leben, so wie die Nachtigall leben will oder die Kegelrobbe oder Sie und Ich. Im Unterschied zu uns letztgenannten ist ihr aber kein Reflexionsvermögen eigen; ihr ist gegeben, wie sie ihr Dasein fristet, weder könnte sie sich von frommen Gaben am Vogelhäuschen nähren noch Vegetarier werden. Das beinhaltet übrigens auch das gute Recht, einen tollpatschigen Abiturienten von ihrem Nest fernzuhalten.

 
 

Die Falkenraubmöwe ist die kleinste und schönste ihrer Gattung. Mit der Silhouette eines modernen Düsenjets und der schwerelosen Eleganz einer Traumkreatur taucht sie auf ihren Wanderungen, die sie bis tief in den Atlantik führen, nur sehr selten an der Nordseeküste auf. In unseren Breiten sind gelegentlich auch die um eine Nuance größere Schmarotzerraubmöwe und die etwas plumper wirkende Spatelraubmöwe zu sehen. Allen gemein ist, dass sie in Kraft, Ausdauer und Geschwindigkeit der Bewegung wirken wie Marvel-Superheldenvögel, wie der fiese ältere Bruder einer Sturmmöwe auf Steroiden.

Und dann gibt es noch: Die Skua. Sie ist gewissermaßen der Grizzly unter den Raubmöwen. Massig und breitbrüstig, je nach Alter von eisernem Rostbraun bis düster mahagonifarben, und – wie ihre kleineren Kolleginnen - mit einem Selbstbewusstsein ausgestattet, das einem Steinadler gut anstünde. Jan hatte einmal das große Glück, für die Dauer einiger Stunden in die Sphäre dieser wilden Geschöpfe eintreten zu dürfen. Ich beneide ihn bis heute darum. Nach einem anhaltenden Sturm fand er am Strand von St. Peter Ording gleich drei Skuas, die sich an einem Kadaver zu schaffen machten und selbst die viel größeren Mantelmöwen in ihre Schranken wiesen.

Die dort entstandenen Porträtaufnahmen sind das Gegenteil meiner wirbelnden Erinnerungsfetzen an die Flucht vor den schnittigen Falkenraubmöwen. Hier steht sie fest und in voller Größe: Ihre Majestät, die Skua - der Souverän des sturmdurchwalkten Strandes gibt sich die Ehre. Der Vogel wirkt fast, als hätte er fotografiert werden wollen.

 
 

Und wer weiß es schon? Das Wilde hat die unwiderstehliche Macht, uns abzustoßen und uns anzuziehen. Spüren wir im einen Moment, dass wir fehl am Platze sind, werden wir in einem anderen völlig unvermittelt großer Schönheit zuteil und dürfen teilhaben an der Gegenwart des Anderen. Nie wird mir das so deutlich wie in der Gegenwart der Falkenraubmöwe, der Schmarotzerraubmöwe, der Spatelraubmöwe und der Skua: Dieser wildesten aller Vogelkerle.

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