El Lince

„Warum beobachtest Du eigentlich Vögel? Säugetiere sind doch viel niedlicher!“ Seit ich zum ersten Mal ein Fernglas in die Hand genommen habe, habe ich diesen Satz bei etlichen Gelegenheiten gehört. Dem Niedlichkeitskritiker würde ich schlichtweg einen frisch geschlüpften Sandregenpfeifer entgegenhalten. Aber es gibt noch ein viel naheliegenderes Argument: Säugetiere sind nämlich gar nicht so einfach zu beobachten. Jedenfalls dann, wenn man über Reh und Eichhörnchen hinaus will. Wie oft sieht man schon einen Iltis? Einen Dachs, gar einen Biber? Und wie oft eine Blaumeise oder einen Mäusebussard? Na also! Vögel sind einfach immer da, oder zumindest häufig, und im Gegensatz zu vielen Säugern dankenswert auffällig und tagaktiv. Und während deren ohnehin nicht besonders üppige Artenpalette zum größten Teil von Nagetieren und Fledermäusen ausgemacht wird, entfaltet sich in der Vogelwelt ein buntes Spektrum mehrerer hundert Arten, irgendwo zwischen majestätischen Bartgeiern und putzigen Wintergoldhähnchen. Europaweit stehen etwa 270 einheimischen Säugetierarten rund 500 Vogelarten gegenüber. Dieses Verhältnis ist übrigens auch weltweit ganz ähnlich (5.000 : 11.000 Arten). Also: Birdfan forever. Oder?

Na schön, wir müssen zugeben: Es gibt auch die andere Geschichte. Und die ist so mächtig, dass sie uns letztendlich nach Spanien führt. Denn natürlich ist der Traum eines jeden Kindes, sie alle einmal zu sehen: Den Löwen. Die Giraffe. Den Pandabären. Vielleicht sogar das Erdferkel oder das Warzenschwein – ganz gewiss aber den Tiger. Nur leider völlig unmöglich. Und wieder: Oder?

 
 

„El Lince“ – der Luchs. Seit Jan das erste Mal diesen Namen in den Mund genommen hat, sind einige Monate vergangen. Jetzt sitzen wir in einem Auto, das über unsägliche Buckelpisten in einen nebelfeuchten, kalten Morgen holpert, und wenn ich seinen Namen nun in steigender Frequenz lustvoll wieder und wieder sage, schmeckt er auf der Zunge nach Herausforderung: „El Lince.“ Das klingt wie: „Der Pate.“ Und, ja, hier muss er sein. Irgendwo hier draußen. Vielleicht sind wir längst in seinem Blick. Auf jeden Fall macht das Aussprechen seines Namens die Präsenz dieses Wesens irgendwie greifbarer. Es ist tatsächlich wie eine kleine Beschwörung, die ich in das Grau des Februarmorgens lisple. Und ich hoffe auf gespitzte Ohren.

 
 

Einmal hatten wir sie schon gesehen. Es war kurz nach unserer Ankunft. Wir frühstückten an einem „Mirador“, einem Aussichtspunkt, mit Blick auf die weiten Täler der Sierra und die Virgen de la Cabeza, einen hochgelegenen, festungsartigen Wallfahrtsort in weiter Ferne, als plötzlich mehrere Elstern schackerten. Alle paar Sekunden flog einer der schwarz-weißen Vögel im dürren Unterholz auf. Der Trupp schien mit etwas mitzuwandern, das ihm gar nicht gefiel. Wir starren uns die Augen aus dem Kopf. Das einsetzende Flimmern kündigt bereits den Mittag an. Alle paar Minuten rast ein Auto über den Asphalt in unserem Rücken. Vor uns ein Picknicktisch und ein paar Bänke für die schnelle Rast. Und dann, geradezu absurd in dieser Umgebung: „Da ist er!! Der Luchs!“ Und wirklich: Jan hat ihn entdeckt. Ich brauche einen Moment, bis ich ihn finde. Gemächlich schleicht die Katze den Hang hinauf, schimmert bronzen in der Sonne, immer noch begleitet von den schimpfenden Elstern. Dann dreht das Tier den Kopf, scheint uns anzuschauen – und ist verschwunden. Wir sind sprachlos. Das nächste Auto saust die Straße entlang.

 
 

Und jetzt, der Morgen, die Dunkelheit, leichter Nieselregen, die unerwartete Kälte, die Buckelpiste. Kein Vergleich mehr zu der von Coladosen gesäumten Szenerie am Tag zuvor. Der Mietwagen rumpelt. Das Radio sprudelt einen nimmermüden Quell spanischer Silben hervor, bis wir es doch ausschalten. Nach einer dreiviertel Stunde Fahrt halten wir im Dämmer eines nasskalten Morgens und steigen aus.

Der Pardelluchs war noch vor wenigen Jahren die seltenste Raubkatze der Welt. Neben der Zerschneidung der Lebensräume und der üblichen Bejagung des „Konkurrenten“ durch den Menschen hatte der Art (die nur in Spanien und Portugal beheimatet ist und daher auch Iberischer Luchs genannt wird) eine anhaltende Seuche ihrer Hauptbeute, den Kaninchen, zugesetzt. In den frühen 2000er Jahren waren nur noch weniger als 200 Luchse übrig. Da es nach umfangreichen Bemühungen des Naturschutzes nun wieder um die 1000 Tiere sein sollen, liegen unsere Chancen also theoretisch fünffach höher.

 
 

Naja. In dem wundervoll weitläufigen Tal, das sich im Morgennebel vor uns ausbreitet, eine Katze zu finden, die mit 10 – 12 Kilogramm - der Eurasische Luchs wird in der Regel doppelt so schwer! - wenig größer ist als unser dicker Kater Bolle zuhause, wird harte Arbeit werden, auch wenn es mit seinen lockeren Baumreihen, Felsabbrüchen und herumstreifenden Rothirschen sehr vielversprechend aussieht. Diese Gebiete gehören traditionell als Jagdreviere zu den umliegenden Haciendas, die sich als kleine Nester der Zivilisation in die halbwilde Kulturlandschaft fügen. Das grüngraue Dickicht lebt, überall huschen Grasmücken umher. Weit entfernt trottet ein Hirsch mit seinem Rudel einen Hügelkamm entlang, ihre Bewegungen wirken wie in Zeitlupe. Wir beziehen Posten. Unter den Füßen knirscht der Schotter.

Schotter? Wildnis? Naja. Man muss dazu sagen, dass dieser Ort für seine guten Chancen auf eine Luchssichtung bekannt und eine entsprechende „Infrastruktur“ vorhanden ist. Wir hatten anfangs sogar überlegt, ob wir den Ort tatsächlich ansteuern sollten, da wir Helgoländer Verhältnisse fürchteten: Zu viele Beobachter auf zu kleiner Fläche. Aber wir wurden positiv überrascht. Zum einen hatten außer uns nur wenige andere Menschen den Weg ins Tal gefunden, zum anderen herrschte eine sehr respektvolle Beobachtungsatmosphäre. Nicht zuletzt wurde so manche Wartezeit durch gute Gespräche verkürzt - die allerdings in der Regel genau eins zum Thema hatten: Wo mag er sich das nächste Mal zeigen?

 
 

Zwölf Stunden später ist es 18:00 Uhr. Die Sonne sinkt. Steinkäuze, die sich in den Felsen rund um unseren Aussichtspunkt verborgen haben, wachen auf und beginnen sich ein Rufduell zu liefern. Und die Kälte, die uns den Tag über ausdauernd begleitet hat, setzt zur finalen Attacke an. Wir sind durchgefroren bis auf die Knochen. Jan hat sogar Ausrüstung von einer Norwegentour dabei, aber gegen zwölf Stunden schneidenden Wind bei relativer Bewegungslosigkeit hilft auch Varanger-erprobtes Merino nichts, Spanien hin oder her. Und der Luchs? Fehlanzeige.

 
 

Mit langen Fingern greift die Dunkelheit aus dem Tal nach den Felsen. Minute um Minute fällt ihr ein weiterer Teil des Tales anheim. In unserem Rücken glüht der Berghang im Abendrot. Und dann geht es Schlag auf Schlag. Ein Rascheln, vielleicht ein zurückschnellender Ast, ein flitzendes Kaninchen. Ich höre mich selbst „Luuuchs!!“ flüstern – die Wahrnehmung kann die Geräusche kaum richtig integrieren, aber das Gehirn tut doch, was es soll – schon haben wir uns umgedreht, die Blicke wie angepinnt an den Hang, während die Sonne weiter sinkt, und starren auf den einen Busch, in dem sich etwas bewegt hat. Oder doch nicht? Dann springt der Luchs hervor. Für nur eine einzige Sekunde ist er sichtbar, doch der Eindruck brennt sich tief ein. Wenn ich heute darüber schreibe, kommt es mir vor, als hätte ich selbst ein Foto gemacht (wir hatten keines an diesem Abend). Es ist das Bild der hechtenden Raubkatze im Profil, im federnden Sprung; der Eindruck von rötlichem Fell mit braunen Flecken, wie von getrockneter tinta aus einem vorigen Jahrhundert; eine Gestalt, die Anmut und Kompaktheit verbindet, denn so ein Luchs ist ebenso schlank wie kurz! – Und dann ist er auch schon wieder weg. Sind wir erlöst? Gebannt? Es ist beides. Als die Aufregung langsam nachlässt, steigt in mir ein Wort auf, das ich, auch nach einigen weiteren Beobachtungen dieses wundervollen Tieres in den folgenden Tagen, immer mit dem Abend in eisiger, rötlicher Kälte verbinden werde: Essenz.

 
 

Stellt euch mal vor, man sollte eine Statue fertigen oder ein Bild, das euch in einer typischen Pose, vielleicht auch in einem charakteristischen Kontext zeigt. Wie sähe das aus? Natürlich, „Essenz“ ist nichts bloß Materielles, schon gar nichts Stumpfes, Planes. Aber es gibt doch Augenblicke, in denen sich das Wesentliche einer Sache in seiner Körperlichkeit so sehr kondensiert, dass es alles zu beinhalten und auszudrücken scheint. Das es zu dem macht, was es ist. Ein gutes Kunstwerk vermag das. Manch ein Künstler arbeitet Jahre daran und scheitert doch. Wie oft mag Leonardo seine Mona Lisa gemalt haben? War es ein glücklicher Schwung? Oder Jahre Arbeit? Und manchmal braucht es gar keinen Künstler. Manchmal liegt die Essenz in einem einzigen Augenblick begriffen. Das Erlebnis mit dem Luchs war ein solcher Augenblick. Ich möchte fast behaupten, dass ich gar keinen echten Bewegteindruck von dieser Situation habe! Die Erinnerung läuft bei mir nicht ab wie ein Film, sie gleicht vielmehr einem Foto. Dieses innere Bild wird erst in seiner Unbewegtheit die absolute Verdichtung von Bewegung, die totale Dynamik: Eine Raubkatze im Sprung! Dazu: Nur einen winzigen Teil des Fellmusters habe ich für den Bruchteil einer Sekunde gesehen, und doch habe ich den Luchs nie wieder so „ganz“ erlebt wie in diesem Moment. Denn vielleicht gehört zu meiner Idee von diesem Tier sogar das: Dass man es nicht in der Totalen erlebt, nicht voll ausgeleuchtet, nicht auf dem Präsentierteller. Der Luchs ist Dynamik, Tarnung, Wildheit, Geheimnis. Er konnte sich nicht deutlicher zeigen als in der Kürze eines solchen Augenblickes.

Und doch reichte das natürlich nicht - wir wollten mehr! Nicht zuletzt, damit wir nicht nur innere, sondern auch vorzeigbare Bilder von unserer Reise mitzubringen hatten – für uns und andere. Sepiaves möchte ja in Wort und Bild einen Zugang zur Natur schaffen. Vor allem merkten wir in den folgenden Tagen aber auch, dass wir mehr und mehr über dieses Tier redeten, und übrigens auch über die Beobachtung anderer Säugetiere. Das war bei uns in diesem Maße nie so sehr Thema gewesen, Vögel hatten stets Gespräch und Überlegungen dominiert. Aber offensichtlich kann auch die Beobachtung von Säugetieren süchtig machen. Wir kehrten dahin zurück, wo wir den Luchs im Unterholz wussten. Und er kam.

 
 

Es waren wieder die schackernden Elstern, die seine Anwesenheit verrieten. Und wieder war es die Stunde vor Sonnenuntergang, in der unser Ausharren belohnt wurde. Es ist erstaunlich, wie schnell man neue Reize einzuordnen vermag, wenn man wirklich hinter einer Sache her ist. Dass die Aufregung der Vögel ihren Grund hatte, hatten wir ja bereits schon einmal erlebt. Als also erneut die ärgerlichen Rufe der Elstern weit über das Tal hallten, wussten wir sofort, was die Stunde geschlagen hatte. Allein – es war kein Luchs zu sehen. Allerdings bewegten sich die Vögel durch die kleinen Baumreihen das Tal entlang. Am Rand der Straße, von der aus wir es überblickten, folgten wir ihnen in stetig größer werdender Aufregung, fast selbst zur aufmerksamen Elster geworden. Denn irgendwann war die Präsenz des anderen Wesens nicht mehr zu überspüren. Bis diese sich schließlich gewissermaßen materialisierte, vergingen noch einige Minuten. Und dann war er da. Stand am Hang, Abendlicht im rötlich-gelbem Fell. Schlenderte weiter, blieb stehen – blickte sich um! – und verschwand in einem die Straße unterlaufenden Tunnel.

 
 

Und nun war auch die Stunde des Fotografen gekommen. Jan huschte in diesem seltsamen Schleich-Lauf die Straße entlang, in den man sich automatisch begibt, wenn man sich möglichst schnell bewegen muss, ohne aufzufallen, vielleicht am ehesten vergleichbar mit dem Laut-Flüstern, das jeder kennt, der den (häufig eher ineffektiven) Mittelweg zwischen Verstehbarkeit und Geheimhaltung einschlagen muss. Aber in diesem Fall lohnte es sich. Der Luchs hatte den Tunnel, den er offenbar als ganz gewöhnliche Revierpassage nutzte, durchschritten, und tauchte nun am gegenüberliegenden Hang wieder auf. Und nun schlossen sich einige Minuten an, die für alles Frieren, für alles Warten, für alle bange Hoffnung entschädigten. Vielleicht für zweihundert Meter konnten wir den durchs Unterholz schleichenden Luchs begleiten und beobachten. Der lies sich indes überhaupt nicht stören und setzte seine Patrouille in aller Seelenruhe fort.

 
 
 
 

In solchen Momenten ein eindrucksvolles Foto zu kreieren, ist dennoch ein Kunststück. Ich habe als Autor ja eine viel bequemere Position, die immer Retrospektive und damit Ruhe und Reflektion beinhaltet. Wenn Jan seine Kunst übt, kommt es auf den Moment an. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es ist, euphorisiert von der sich bietenden Gelegenheit, mit pochendem Herzen und zitternden Fingern die Kamera zu bedienen. Und ich stelle mir vor, dass es am Ende neben der technischen Beherrschung der Gerätschaften weniger die besonderes „ruhige Hand“ ist, sondern das Gefühl für die Situation, das eine Mischung aus intuitivem ästhetischem Empfinden und „darin sein und es leben“ ist. Denn ich wette: Hätte man Jan schlicht in genau diese Situation „gebeamt“, ohne all die vorherigen Erlebnisse, ohne das Kondensat der Erwartungen, der kurzen Sichtungen an den Tagen vorher, den geisterhaften Vorstellungen, die die Träume heimsuchen; ohne die Strapazen und damit auch ohne die Aufregung, genau jetzt in so unmittelbarer Nähe dieses geheimnisvollen Wesens sein zu dürfen – die Bilder sähen gänzlich anders aus. Und genau deshalb sind sie nicht nur eine wunderschöne Erinnerung an unsere erste Tour auf der Suche nach einem Säugetier. Sondern sie vermitteln euch auch wie es sich anfühlt, wenn man für die Dauer eines Wimpernschlags Auge in Auge mit einer der seltensten Raubkatzen der Welt steht.

 
 
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Tapas congeladas