Tapas congeladas
Oh, Spanien! Sengende Sonne, glühendes Land! Wo der schwarze Toro im Schatten des Olivenbaums seine Siesta hält, wo die Luft vom Schwirren der Zikaden vibriert und der Sonnenbrand Bestandteil der Reisegarderobe ist, genau da – sind wir nicht.
Nicht wahr: „Rio Jándula“ klingt zumindest ein ganz kleines bisschen wie „Hotel Gran Paradiso“. Aber das Einzige, was hier gerade an Strandurlaub erinnert, sind die Eisblumen, die wie eine Kolonie kleiner Sonnenschirme mein Spektiv zieren. Verdammt, es ist kalt. Minus fünf Grad zeigte das Thermometer, als wir im Schwarzblau einer eilig dem Märzmorgen weichenden Nacht in den Wagen gestiegen sind. Und ehrlich gesagt hatten wir uns das auch anders vorgestellt.
Aber jetzt sitze ich mit Jan in einem eisig kalten Tal mitten in der spanischen Provinz Andalusien. Eben dämmert der Morgen. Zu unseren Füßen fließt in tiefer Stille der Rio Jándula. Kaum, dass die Sonne über die Bergkämme steigt, hüllt er seine nackten, schwarzen Wasser in seidige Nebelschwaden, als würde er seine Kurven vor ihr verbergen wollen. Aber der Fluss hütet ein ganz anderes Geheimnis. Als es hinter unserem Rücken leise platscht, wissen wir, dass er es für uns lüften wird. Ich starre auf das dunkle Bassin und versuche, mein Zittern zu unterdrücken.
Sekunden vergehen. Im Unterholz schmettert ein Seidensänger zwei, drei metallene Strophen, verstummt wieder. Und dann gleitet ein dunkler Schatten durch das schwarz spiegelnde Wasser. So lang wie ein Arm, so mühelos wie ein Geist, der durch Wände geht, und zu unserem Glück, so kurzsichtig wie ein Maulwurf: Ein Fischotter! Er kommt direkt auf uns zu. Ich bin wie erstarrt. Aber das ist nicht mehr die Kälte. Es ist die Präsenz des anderen Wesens, das an diesem eisklirrenden Frühlingsmorgen, mit einem pochenden Herz, so warm wie meines, diesen Ort mit uns teilt. Ein, zweimal schnauft das Wassertier, und taucht kaum einen Meter vor Jan, der ein Stück weiter hinter der Kamera am Ufer kauert, wieder in den schwarzen Spiegel ein.
In solchen Momenten spielen sich seltsame Dinge ab. Der Otter ist wunderschön, und dem ganz offensichtlich vergnügt einen Fisch nach dem anderen frühstückenden Kerlchen zuzusehen eine echte Freude. Aber ich glaube, am meisten fasst mich bei jeder Begegnung mit einem wilden Tier wieder an, dass ich in einem kleinen Moment in seiner Wahrnehmung vorhanden bin. Warum das so auf mich wirkt? Ich habe noch keine Antwort gefunden. Vielleicht ist es am ehesten nachvollziehbar, wenn man sich das Gefühl vorstellt, einem anderen Menschen tief und lange in die Augen zu sehen. Da passiert irgendetwas, das mit diesem Eindruck verwandt ist. Ich werde dem weiter nachspüren.
Der Otter hat sich dann noch eine gute halbe Stunde lang die Ehre gegeben. Immer wieder tauchte er hier auf und dort unter, aalte sich, völlig unbeeindruckt von der klirrenden Kälte, durch sein Element, präsentierte sich beim Verspeisen eines Weißfisches in seiner ganzen klitschnassen Herrlichkeit und schien, warm in seinen dicken Unterpelz gepackt, irgendwie sehr zufrieden mit sich zu sein, wovon herzhaftes Gähnen und ein frischmorgendlich geputzter Schnurrbart lebhaftes Zeugnis ablegten.
Während ich mich glücklich ganz ins Schauen versenken darf, muss Jan immer etwas mehr leisten: Er erzählte mir, dass er am Ende kaum noch den Finger auf den Auslöser der Kamera drücken konnte. Klar, das war die Kälte. Jeder kennt das ja, die Feinmotorik lässt nach, wenn sie bis in die Knochen dringt. Aber, im Sinne des eben Gesagten: Vielleicht war es ja noch etwas anderes. Wie ruhig wären Sie geblieben? Ich weiß jedenfalls, dass Jan nicht weniger von solchen Begegnungen berührt wird als ich – ganz im Gegenteil: Aus diesem Gleichklang entstehen unsere Aufzeichnungen in Bild und Wort.
Als der Otter verschwand, wärmten erste Sonnenstrahlen den Ufersaum. Kormorane flogen in kleinen Zügen flussaufwärts zum nahen Stausee. Der Seidensänger versuchte noch einmal sein Künstlerglück, und Blauelstern huschten wie eine umherlichternde Diebesschar im Dämmer des Unterholzes. Für uns war das Erlebnis eine Art tapa, eine verdammt leckere (wenn in diesem Fall auch tiefgefrorene) kleine Vorspeise. Denn diese Gegend Spaniens ist nicht zuallererst für seine Otter bekannt, sondern für etwas ganz anderes. Und das wollten wir finden.